Forderungskatalog zur Flüchtlingssituation in Sachsen
Mehr als 60 Millionen Menschen sind aktuell weltweit auf der Flucht. Deutschland und Sachsen stellen sich den Herausforderungen dieser humanitären Krise und werden ihren Teil zur Lösung beitragen. Sachsen nimmt dazu dieses Jahr mehr als 20.000 Menschen auf. Das ist eine große Herausforderung. Sie ist aber zu bewältigen, wenn Regierung, Parlament, aber auch Wohlfahrtsverbände, Ehrenamtsinitiativen und engagierte Bürgerinnen und Bürger zusammenarbeiten.
In den vergangenen Tagen und Wochen ist es zu einem besorgniserregenden Anstieg von Übergriffen auf Asylsuchende, Flüchtlinge bzw. deren (geplante) Unterkünfte gekommen. Auch ehrenamtliche Unterstützerinnen und Unterstützer von Verbänden und Willkommensinitiativen werden zunehmend zum Angriffsziel offensichtlich rechtsmotivierter Straftäter, die oft mit äußerster Brutalität vorgehen. Wir verurteilen diese Angriffe auf Deutsche wie Nichtdeutsche auf das Schärfste. Wir dürfen nicht zulassen, dass durch die Verbreitung von Angst und Schrecken unsere Gesellschaft entsolidarisiert wird. Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass die Ermittlungsverfahren zentral vom Operativen Abwehrzentrum der sächsischen Polizei geführt werden.
Das allein reicht aus unserer Sicht aber nicht. Es braucht entschiedenes politisches Handeln. Es braucht abgestimmtes Handeln der Staatsregierung, der Landesverwaltung und des Landtages, um den Schutz von Asylsuchenden, Flüchtlingen und Helferinnen und Helfern sowie eine menschenwürdige Unterbringung zu gewährleisten. Populistische Verallgemeinerungen und unsachliche Übertreibungen lehnen wir entschieden ab. Sie sind überflüssig, schüren übertriebene Ängste und vergiften das gesellschaftliche Klima.
Wir danken ausdrücklich allen Helferinnen und Helfern – egal ob ehrenamtlich oder hauptamtlich –, allen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die mit Spenden helfen, allen Polizistinnen und Polizisten, die zum Schutz der Unterkünfte beitragen. Dieser Forderungskatalog ist eine Diskussionsgrundlage für die Sondersitzung des Innenausschusses am 6. August.
Aus meiner Sicht sind folgende Schritte dringend notwendig:
1. Zeltlager baldmöglichst schließen
Die Einrichtung von Zeltlagern zeigt: Sachsen muss für die Erstaufnahme von Asylsuchenden dringend mehr Kapazitäten schaffen und die Unterbringung qualitativ verbessern. Zeltlager werden den Ansprüchen an eine menschenwürdige Unterbringung nicht gerecht. Bestehende Zeltlager müssen daher schnellstmöglich, spätestens bis zum 30. September aufgelöst werden. Bis dahin sind dort menschenwürdige Bedingungen inklusive ausreichender sozialer Betreuung zu gewährleisten.
2. Bau neuer Erstaufnahmeeinrichtungen beschleunigen – Reserven schaffen
Damit Notunterkünfte wie Zeltlager oder Turnhallen zukünftig vermieden werden, muss der Bau der neuen Erstaufnahmeeinrichtungen in Dresden und Leipzig beschleunigt werden. Durch das Sächsische Innenministerium sind alle notwendigen Schritte einzuleiten, damit diese spätestens zum 31. März 2016 fertiggestellt und in Betrieb genommen werden können. Dafür notwendige Änderungen der Sächsischen Bauordnung sind zügig anzugehen. Der Bau einer vierten Erstaufnahmeeinrichtung, die auch als Reserve für den nicht unwahrscheinlichen Fall weiter steigender Flüchtlingszahlen zur Verfügung steht, soll durch die Staatsregierung geprüft werden. Das Ergebnis ist dem Innenausschuss zeitnah vorzulegen. Zusätzlich brauchen wir für die Erstaufnahme Reservekapazitäten, um auch im Falle unvorhergesehener Steigerungen der Anzahl von Asylsuchenden auf Zeltlager verzichten zu können. Hierzu soll das Sächsische Innenministerium ein Unterkunftskataster mit allen in Sachsen zur Verfügung stehenden und als vorübergehende Außenstelle einer Erstaufnahmeeinrichtung geeigneten Immobilien in kommunalem, Landes- und Bundeseigentum erstellen. Die so gefunden Interimsstandorte können so rechtzeitig als solche bekannt gegeben werden, damit die betreffenden Kommunen sich und die Bevölkerung auf einen solchen Fall vorbereiten können.
3. Dezentrale Unterbringung ausbauen
Sachsen braucht ein Flüchtlingsunterbringungskonzept, das stärker auf dezentrale Unterbringung setzt. Die Asylsuchendenunterkünfte können durch eine konsequentere dezentrale Unterbringung entlastet werden. Der Bezug einer Wohnung soll insbesondere für Familien, kranke und alte Menschen direkt nach dem Verlassen der Erstaufnahmeeinrichtung als Regelfall ermöglicht werden. Auch im Fall der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft soll von dort aus die Vermittlung in dezentrale Wohnungen i.d.R. binnen sechs Monaten ermöglicht werden.
4. Asylverfahren beschleunigen
Die Asylverfahrensdauer in Sachsen ist zu lang. Bis zur kommenden Innenausschusssitzung hat das Innenministerium zu berichten, warum Sachsen bei der Bearbeitung von Asylverfahren im bundesweiten Vergleich lediglich Platz 14 belegt. Dazu sind die konkreten Ursachen zu benennen und Verbesserungsvorschläge vorzulegen. Es ist im Interesse der Asylsuchenden und des Freistaats Sachsen insgesamt, dass die Verfahrensdauer deutlich verkürzt wird. Zur Entlastung der Erstaufnahme und zur Beschleunigung der Asylverfahren bei Antragstellern aus Kriegsgebieten wird das Innenministerium, aufgefordert sich für eine sofortige Anerkennung von Asylsuchenden aus Kriegsgebieten einzusetzen, deren Anerkennungsquote schon jetzt bei nahezu 100 Prozent liegt. Auch Asylanträge aus Ländern mit sehr geringer Anerkennungsquote sollten bevorzugt bearbeitet werden, um eine möglichst kurze Verfahrensdauer bei einem rechtsstaatlichen Verfahren sicherzustellen. Als Verfahrensdauer für einen Erstantrag sind für diese Herkunftsländer zwei Wochen anzustreben. Das Innenministerium wird weiterhin beauftragt, sich beim Bundesinnenministerium dafür einzusetzen, dass die Zahl der Entscheiderinnen und Entscheider im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) deutlich erhöht wird. Die Zahl der in der sächsischen Außenstelle in Chemnitz beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BAMF ist zu erhöhen. Zudem sind durch das BAMF weitere zwei Außenstellen an den Standorten Dresden und Leipzig einzurichten, sobald die dort geplanten Erstaufnahmeeinrichtungen in Betrieb gehen. Das individuelle Recht auf Asyl bleibt auch bei beschleunigten Asylverfahren bestehen. Das Land Sachsen macht sich auf Bundesebene dafür stark, dass die vorgeschriebenen Widerrufsverfahren drei Jahre nach Anerkennung von Flüchtlingen zumindest ausgesetzt werden, um die freiwerdenden Ressourcen für die Bearbeitung von Anträgen einzusetzen. Das Justizministerium prüft zudem, ob die vor kurzem angekündigten zusätzlichen Verwaltungsrichterstellen ausreichen, um eine zeitnahe Bearbeitung von Widersprüchen gegen Asylentscheidungen zu gewährleisten.
5. Kommunen finanziell stärker unterstützen
Integration und gesellschaftliche Teilhabe findet vor Ort statt. Wir dürfen die Kommunen bei der Unterbringung von Asylsuchenden und Flüchtlingen nicht finanziell überfordern. Der Bund und das Land stehen deshalb in der Pflicht. Noch in diesem Jahr soll die Höhe der Pauschalen im sächsischen Flüchtlingsaufnahmegesetz überprüft und bedarfsgerecht angepasst werden. Kommunen, die ihrer Verpflichtung der Flüchtlingsaufnahme vollständig nachkommen, sollen eine Prämie erhalten (bspw. im Rahmen des FAG). Perspektivisches Ziel ist die Übernahme der finanziellen Leistungen (Asylbewerberleistungsgesetzes sowie die Analogleistung) für Asylbewerber und die übrigen Geduldeten nach einem Jahr Aufenthalt durch den Bund. Die Staatsregierung wird aufgefordert, sich beim Bund hierfür einzusetzen.
6. Sicherheit für Flüchtlinge und Unterstützer gewährleisten – Polizei stärken
Der Schutz von Flüchtlingsunterkünften muss dringend verbessert werden. Das Sächsische Innenministerium wird aufgefordert, die Gefahrensituation neu zu bewerten und entschiedene Schritte einzuleiten. Falls notwendig, müssen (geplante) Asylsuchendenunterkünfte durch staatliche Sicherheitskräfte stärker bewacht werden. Bereits jetzt beteiligt sich die sächsische Polizei an der Sicherung von Asylsuchendenunterkünften und der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in diesen Einrichtungen und für ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Es ist wahrscheinlich, dass dieser Einsatzbereich für die sächsische Polizei nicht nur erhalten bleibt, sondern in nächster Zeit noch an Bedeutung gewinnen wird. Das geht mit einem Anwachsen der Mehrarbeitsstunden insbesondere bei den Beamtinnen und Beamten der
Bereitschaftspolizei einher. Daher wird das Sächsische Innenministerium aufgefordert, kurzfristig besondere Leistungsanreize zu schaffen, indem z.B. Mehrarbeit bezahlt oder Stellen durch – auch vorübergehende – Stellenhebungen aufgewertet werden. Auch unabhängig von der Arbeit der Fachkommission Polizei ist der Stellenabbau der Polizei vollumfänglich zu stoppen und zu prüfen, wie kurzfristig Neustellungen zu realisieren sind.
7. Konsequente Strafverfolgung – Hetze im Internet stoppen
Asylfeindliche Straftaten erfordern ein konsequentes und konzentriertes Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden. Wer Asylsuchende oder Helfer angreift oder beschimpft, Asylunterkünfte in Brand setzt oder anderweitig beschädigt, muss schnell und hart bestraft werden. Das Sächsische Innenministerium wird daher aufgefordert, wirksame Schritte zur Beschleunigung entsprechender Ermittlungsverfahren zu treffen. Dazu sind zusätzliche Stellen in den sächsischen Staatsanwaltschaften zu schaffen, um Ermittlungsverfahren im Rahmen der gesetzlichen Regelungen in kürzester Zeit von der Anzeige bis zum Urteilsspruch zu führen. Insbesondere in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter wird zunehmend rassistische Hetze bis hin zu Gewaltaufrufen gegen Flüchtlinge und deren Unterstützerinnen und Unterstützer verbreitet, die
unterschiedliche Straftatbestände erfüllen. Das Internet ist aber kein rechtsfreier Raum. Das Sächsische Innenministerium wird aufgefordert, die rechtlichen, technischen, organisatorischen und personellen Voraussetzungen für die Einrichtung einer Sondereinheit zu schaffen. Diese soll entsprechende Straftaten – in Form von Beleidigungen, Hass- und Gewaltaufrufen – selbstständig feststellen und verfolgen können. Außerdem werden niederschwellige Möglichkeiten zur Anzeige solcher Straftaten bei Polizei und Staatsanwaltschaften geschaffen.
8. Zugang zum Arbeitsmarkt verbessern
Jugendliche Flüchtlinge, die sich in der Ausbildung befinden, sollten wie in anderen Bundesländern bereits praktiziert – eine Duldung für die Dauer der Ausbildung erhalten und nicht abgeschoben werden. Ausländerbehörden und Arbeitsagenturen müssen ihre Abläufe und ihren Umgang mit Asylsuchenden besser abstimmen und vereinheitlichen. Der Ansatz, Beschäftigte der Bundesagentur für Arbeit in den Erstaufnahmeeinrichtungen einzusetzen, um die Qualifikation der Flüchtlinge zu registrieren und die Menschen zu beraten, sollte zügig auf alle Erstaufnahmeeinrichtungen ausgeweitet werden. Auch die lokalen Agenturen für Arbeit werden angehalten, Ansprechpartner für Menschen mit Aufenthaltsgestattung zu benennen, damit gerade Menschen mit hoher Bleibeperspektive und guter Ausbildung bereits während ihres Asylverfahrens in Arbeit vermittelt werden bzw. die deutsche Sprache erlernen und ihre Abschlüsse anerkennen lassen können.
9. Ehrenamt unterstützen
Viele Menschen in Sachsen engagieren sich für schutzsuchende Flüchtlinge. Ihnen gilt unser ausdrücklicher Dank. Um deren Arbeit durch fachliche und organisatorische Beratung besser zu unterstützen, müssen wir uns auf staatlicher, insbesondere kommunaler Ebene, besser aufstellen. Dazu muss der Freistaat seinen Beitrag leisten, um diese Strukturen zu stärken oder aufzubauen. Für eine erste finanzielle Unterstützung hat die Integrationsministerin mit den Förderrichtlinien „Soziale Betreuung“ und
„Integrative Maßnahmen“ eine Grundlage geschaffen. Hier können ehrenamtlich Engagierte, Vereine und Organisationen Unterstützungsgelder beantragen. Sollten diese Mittel nicht reichen, sind sie bedarfsgerecht aufzustocken. Zur besseren Koordination zwischen den Stellen, aber auch von hauptamtlicher und ehrenamtlicher Arbeit sowie zur Einbindung und Information sächsischer Akteure aus Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft haben sich der Lenkungsausschuss Asyl zwischen Innen- und
Integrationsministerium sowie das Verbändegespräch der Integrationsministerin als geeignete Mittel erwiesen. Um die Arbeit vor Ort zu verbessern, sollten auf kommunaler Ebene Verbändegespräche eingeführt werden. Die Arbeit vor Ort ist durch hauptamtliche Integrationskoordinatoren zu unterstützen.