Geschichtsmythen und politische Kultur
[Interview aus der SüdPost N° 4]
Thema des letzten Stadtgesprächs war die Gedenkkultur rund um den 13. Februar. Als Gast empfing ich den Historiker Prof. Christoph Meyer.
Albrecht Pallas: Dresden hat sich auch zum 71. Jahrestag der Bombardierung wieder mit der Suche nach der richtigen Form des Gedenkens schwergetan. Was sind die besonderen Knackpunkte, weshalb der Umgang mit der Geschichte hier so sperrig erscheint?
Christoph Meyer: Die spätere Suche nach dem „richtigen“ Gedenken ist wohl das Außergewöhnlichste an der Bombardierung Dresdens. So viele deutsche Städte wurden ebenso schwer oder noch viel schlimmer zerstört. Doch ein ähnlich ritualisiertes Gedenken daran finden Sie weder in Köln, noch in Münster, in Hamburg oder Kassel. Das hängt natürlich auch mit der nachträglichen Inszenierung zusammen. Wenige Tage nach der Bombardierung missbrauchte die NS-Propaganda Dresden, sprach von Bombenterror der Allliierten mit 200.000 Toten. In der DDR wurde diese Geschichte nahtlos fortgeschrieben, stellte die Bombardierung doch die Westalliierten als Verbrecher dar. Und im Gegensatz zu den westdeutschen Städten wurde Dresden nur sehr langsam wieder aufgebaut. Die Narben waren tief im Stadtbild verankert, der Trümmerhaufen der einstigen Frauenkirche fungierte über 45 Jahre als Mahnmal.
Albrecht Pallas: Und dieser ideologische Missbrauch der Zerstörung gipfelte dann unter Ausblendung der Mitschuld in einer Opferstilisierung, eingereiht neben Coventry, Leningrad, Warschau und sogar Auschwitz. Wie tief sitzt der Schaden dieser Fehlinterpretation?
Christoph Meyer: Ja, der berühmte in Dresden geborene Politiker Herbert Wehner hat es einmal gesagt: „Dresden, das war meine Heimatstadt. Dort ist auch meine Mutter in dem Bombardement umgekommen. Ich würde es dennoch ablehnen, Dresden mit Guernica und mit Oradour und mit Katyn in eine Reihe zu stellen.“ Genau das geschieht aber – beispielsweise durch die Stelen auf dem Heidefriedhof. Nun, die Naziaufmärsche hätten sich sicher nicht allzu lange halten können, wenn der Umgang der Stadtgesellschaft mit der Zerstörung souveräner gewesen wäre. Ein offizielles Gedenken, welches den Opfermythos weiter pflegt, kann da nur weiterem Missbrauch Vorschub leisten. Das Problem ist das Kreisen um die eigene Trauer, die Fokussierung auf das Zerstörte und auch die Reduzierung auf diese eine Nacht. Insofern finde ich es gut, dass das Gedenken am 13. Februar den größeren Zusammenhang einbezieht, etwa mit dem Mahngang „Täterspuren“, dem Gedenken an die jämmerlich ums Leben gekommenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen, aber auch damit, dass es Anlass geworden ist, dem heutigen gegenwärtigen Rechtsextremismus ein deutliches Zeichen entgegen zu setzen.
Albrecht Pallas: Der Opfermythos kam ja nicht nur aus der Kriegsschuldvergessenheit. Was blieben, gerade für Sie als Historiker, schwer zu entkräftende Mythen nach dem 13. Februar?
Christoph Meyer: Sie spielen auf das Wirkungsfeld der Historikerkommission an, richtig? Die Nazi-Propaganda war ja nicht für das Verbreiten stimmiger Fakten bekannt. Indem man erstmal von 200.000 Toten sprach, verlieh man dem Schrecken eine völlig überzogene Dimension. Das wäre zu dieser Zeit wohl etwa jeder Dritte in Dresden Anwesende gewesen. Die Historikerkommission hat die Einwohnerstatistik zu Rate gezogen und kam auf etwas mehr als 18.000 direkte Dresdnerinnen und Dresdner. Rechnet man die Nichtgemeldeten, also besonders die Kriegsflüchtlinge, aber auch die Zwangsarbeiter mit ein, kommen wir auf bis zu 25.000 Tote. Die Zahlendiskussion führt allerdings nicht weiter. 25.000 Menschen, eine komplette Kleinstadt, das ist für sich schon eine schreckliche Zahl. Aber NS-Diktatur und Krieg, das war viel mehr als nur der 13. Februar. Die Dresdner Opferzahlen sind tatsächlich viel höher, aber anders als die Übertreiber des 13. Februar meinen: Etwa 30.000 Männer aus Dresden sind im Krieg gefallen, mindestens etwa 6.000 Dresdner Juden waren von Verfolgung bis hin zur Ermordung betroffen. Hinzu kommen zahlreiche politisch Verfolgte, Menschen mit Behinderungen, ermordet oder zwangssterilisiert, Roma und Sinti – sowie wahrscheinlich, werden die aktuellen deutschlandweiten Zahlen hochgerechnet, um die 10.000 vergewaltigte Frauen. Auch mit dem 13. Februar kehrte der von Deutschland und Dresden ausgehende Krieg heim ins Reich – aber das Geschehen war in Wirklichkeit viel breiter.
Auch die Tiefflieger haben sich in das kollektive Gedächtnis gegraben, obwohl es bei der Strecke, die die Bomber zurücklegen mussten, unmöglich war, im Tiefflug Extrarunden zu drehen. Da steht das technisch Mögliche dem immer wieder beschworenen Bild entgegen. Und das ist kein Vorwurf an die Zeitzeugen. Eingebildete und im „Geschichten erzählen“ immer wieder wiederholte und vertiefte Ereignisse werden in der eigenen Vorstellung zur Wirklichkeit. Die Zeitzeugen lügen nicht – aber sie erinnern sich manchmal falsch. Dieses Problem begegnet Historikern häufig.
Albrecht Pallas: Ein spannendes Thema. Zum Abschluss die Frage, wie sollen wir die Bombardierung Dresdens nun in die kollektive Stadtgeschichte einbetten?
Christoph Meyer: Als das, was sie war: Der traurige Höhepunkt einer 12 Jahre währenden Geschichte. Die Kunst- und Kulturstadt hat sich doch bis dahin selbst demontiert. Die erste Bücherverbrennung? In Dresden! Die erste Ausstellung „entarteter Kunst“? In Dresden! Die Zerstörung eines der schönsten Gebäude Gottfried Sempers, der Synagoge? Auch Teil des Dresdens vor dem 13. Februar. Wer nur des 13. Februar gedenkt, reißt die schrecklichen Geschehnisse der Nazidiktatur und des Zweiten Weltkriegs aus ihrem verbrecherischen Zusammenhang. Wer Gewalt überwinden, wer aus der Geschichte lernen will, muss sich darum bemühen, die Geschehnisse von 1945 in ihrer Gesamtheit zu begreifen.