[Interview aus der SüdPost N° 2]
Thema des letzten #Stadtgesprächs war Wohnungslosigkeit in Sachsen. Als Gast empfing ich Rotraud Kießling, Referentin für Offene Sozialarbeit der Diakonie Sachsen, in deren Aufgabenbereich auch die Wohnungslosenhilfe fällt.
Albrecht Pallas: Sie befassen sich intensiv mit Wohnungslosigkeit. Wie schätzen Sie die Problematik für den Freistaat Sachsen ein?
Rotraud Kießling: Im Rahmen einer Studienarbeit forsche ich zu diesem Thema, was mit einer großen Schwierigkeit verbunden ist. Obwohl in der Verfassung Sachsens das Recht auf angemessenen Wohnraum (Art. 7 Abs. 1) anerkannt wird, erfasst keine Stelle im Land, wer dieses Recht nicht wahrnimmt und aus welchen Gründen das geschieht. Diese fehlende Erfassung erschwert uns Schlüsse zum Ausmaß dieses Problems. Wenn wir als Diakonie allein schon etwa 3000 Fälle von Wohnungslosigkeit verzeichnen, was nur ein Bruchteil ist, wird allerdings die Notwendigkeit für ein Monitoring in diesem Bereich deutlich.
AP: Es gibt also keine handfesten statistischen Daten? Inwiefern können Sie dann die Entwicklung einschätzen?
RK: Nein, bedauerlicherweise nicht. Da die Wohnungslosenhilfe aber integraler Bestandteil im Referat Offene Sozialarbeit ist, stehen uns unsere eigenen Beobachtungen zur Verfügung. Unsere Daten belegen eine stetig steigende Tendenz bei der Zahl Wohnungsloser. Wenn wir beispielsweise für 2013 von etwa 3800 Räumungsklagen wissen, landesweit etwa 15 Prozent Menschen ohne Einkommen verzeichnen und dazu die Entwicklung der Mietpreise, den schwindenden kommunalen Wohnungsbestand, fehlende Belegungsrechte und ein Ausbleiben sozialer Wohnraumschaffung betrachten, kann diese Tendenz auch nicht anders aussehen. Die Wohnung als Ware, die den Regeln des Markts unterliegt, verträgt sich nicht mit dem Recht auf Wohnraum.
AP: Mietsteigerungen und unzureichender Wohnungsneubau führen ja noch nicht direkt in die Wohnungslosigkeit. Können Sie die letztlich ausschlaggebenden Ursachen noch etwas ausführen?
RK: Ein besonders kritischer Moment auf dem Weg in die Wohnungslosigkeit ist die Stromabschaltung. Davon sind in Sachsen etwa 10.000 Haushalte betroffen. Die Mieterhöhungen treffen wiederum besonders Menschen im Niedriglohnsektor, die dann zunehmend in die Armut abrutschen. Die Konkurrenz um Wohnungen wirkt sich für sozial Benachteiligte besonders übel aus: Als Vermieter nehmen Sie natürlich lieber die Bewerber ohne Schufa-Eintrag. Und bis das Amt die Übernahme der Mietkosten bestätigt, hat sich der Vermieter schon für die Interessenten mit Mietschuldenfreiheitsbescheid und sicherem Einkommen entschieden. So sind sie aus einer Wohnung raus, aber kommen in keine Neue rein.
AP: Welchen konkreten Nutzen hätte dann ein Monitoring in diesen Fällen?
RK: Ein Monitoring würde das Ausmaß des Problems für Helfer und Betroffene ersichtlich und damit staatliches Handeln erforderlich machen. Stattdessen agieren wir in Kommunen, Heimen und Nachtcafés im Blindflug ohne zu wissen, mit welcher Dimension wir es zu tun haben. Bereits die UN hat die Bundesregierung zur Erfassung gedrängt und in Ihrem Koalitionsvertrag wird ebenfalls eine Erhebung angekündigt. Die Liga der Freien Wohlfahrtsverbände wartet darauf.
AP: Welche Erfahrungen haben Sie denn bisher mit den politischen Vertretern, abseits mangelnder konkreter Problemkenntnis?
RK: Nicht nur die konkrete Kenntnis, sondern die komplette Wahrnehmung einer politischen Zuständigkeit fehlt. Das Sozialministerium fühlt sich schlichtweg nicht zuständig. Der beim Innenministerium angesiedelte Wohnungsbau fand ohne nennenswerte Beteiligung des Sozialministeriums statt, dementsprechend auch ohne sozialpolitische Ansprüche an den Wohnungsbau. An diesem Problembewusstsein scheint sich auch nichts ändern zu sollen, schließlich gibt es schon seit Jahren keine Gespräche der Sozialministerin mit der Liga mehr.